Melanie Hebben: Der Heizer


Minna zeichnete mit einem Kohlestift auf ein Blatt Papier: Spitze Berge, eine Eisenbahn, die sich in seichten Kurven durch die hügelige Landschaft schlängelte, und Schiffe, die auf richtigem Wasser fuhren, nicht in der Luft. So stellte sie sich die Erde vor. Sie saß direkt am Schreibtisch neben einer Luke und sah zwischendurch hinaus. Von hier war nicht viel von der Welt dort unten zu erkennen, sie hatte nur Geschichten gehört und Schwarz-Weiß-Aufnahmen gesehen, von Menschen mit prächtigen Kleidern – nicht viel anders als hier -, bis hin zu den ärmlichsten Schichten, mit einfachen grauen Gewändern.
Mit dem letzten Stück Kohle schraffierte sie den Dampf, den die Eisenbahn erzeugte, wie sie ihn aus den unteren Schiffsbereichen steigen sah, um ihre Welt oben zu halten. Es fehlten noch die Wolken am Himmel und Häuser in verschiedenen Landschaftsecken. Sie musste hinunter in die Antriebswerke, um von dort einen besseren Blick zur Erde zu bekommen. Es gab Kristallfenster im untersten Deck, als würde man mitten in der Luft stehen – mit nichts als dem Abgrund unter einem. Wenn die Sicht klar war, würde sie vielleicht heute mehr Dinge zum Zeichnen entdecken.

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© Melanie Hebben, geboren 1989 in München, lebt mit ihren beiden Katern in Bielefeld und studiert in Paderborn Romanistik (Französisch/Spanisch). In ihrer Freizeit widmet sie sich ganz der Literatur. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Roman.

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© Constanze Buttmann wurde 1994 in Gräfelfing bei München geboren und ist seit 2017 Sprecherin aus Leidenschaft. Wenn sie nicht gerade Hörspiele aufnimmt oder in Horrorfilmen um ihr Leben schreit, studiert sie fleißig Theater- und Medienwissenschaften, sowie English and American Studies in Erlangen, singt, tanzt oder liest ein gutes Buch, denn für sie geht nichts über eine mitreißende, bewegende, nachdenkliche oder einfach nur schöne Geschichte, der sie mit ihrer Stimme Leben einhauchen kann.